Das Theatervirus
Der Mann war zu uns in die Klasse geschickt worden, um uns zu inspirieren, und ich persönlich muss sagen, er machte seine Sache ganz ausgezeichnet. Nachdem er sich entspannt und herzlich vorgestellt hatte, brach er in den hinteren Teil des Klassenzimmers auf, um jedoch auf halbem Wege an etwas zu scheitern, was er als «die unsichtbare Wand» bezeichnete, jene transparente Barriere, die nur von Psychotikern, Drogensüchtigen und anderen Angehörigen der Unterhaltungsbranche wahrgenommen wird.
Ich war völlig gebannt, als er die imaginäre Wand mit den Handflächen untersuchte und mit den Händen die offenbar harte Oberfläche in der Hoffnung auf ein Schlupfloch abtastete. Nur Augenblicke später zerrte er an einem unsichtbaren Seil und kämpfte dann gegen einen gewaltigen, phantastischen Wind an.
Man weiß, dass man in einer Kleinstadt lebt, wenn man es bis in die neunte Klasse geschafft hat, ohne jemals einen Pantomimen gesehen zu haben. Was mich betraf, so war dieser Mann ein Prophet, ein Genie, ein Pionier im Unterhaltungsbereich –, und der war nun hier, in Raleigh, North Carolina! Zum Totlachen, wie er die Lehrerin nachmachte, mit heruntergezogenen Mundwinkeln, und in einem imaginären Handtäschchen nach Kaugummi und Aspirin kramte. Wenn dieser Typ nicht komisch war, wer denn dann?
Ich ging nach Hause und demonstrierte die unsichtbare Wand meinem zwei Jahre alten Bruder, der gegen die sehr reale Wand neben seinem Laufställchen hämmerte und vor Ekel schrie und heulte. Als meine Mutter fragte, was ich getan hatte, um ihn zu provozieren, warf ich in gespielter Unschuld die Hände hoch, um mich sogleich zu bücken und das imaginäre Baby, das zu meinen Füßen wuselte, aufzuheben. Ich tätschelte dem kleinen Gespenst den Rücken, damit es ein Bäuerchen machte, und inspizierte gerade die verschmutzte Windel, als ich auf dem Gesicht meiner Mutter einen Ausdruck bemerkte, den sie normalerweise für unaussprechliches Entsetzen reserviert hatte. Ich hatte diesen Gesichtsausdruck erst zweimal gesehen: Einmal, als sie von einem tollwütigen Schwein angegriffen wurde, und dann noch einmal, als ich ihr sagte, ich hätte gern einen pfirsichfarbenen Blazer aus Baumwollsamt mit dazu passender ausgestellter Hose.
«Ich weiß nicht, wer dir das eingeblasen hat», sagte sie, «aber ich werde dich eigenhändig umbringen, bevor ich mit ansehe, wie du zum Clown heranwächst. Wenn du dir das Gesicht anmalen und an Straßenecken herum hüpfen willst, musst du dir eine andere Bleibe suchen, denn so was dulde ich nicht in meinem Haus.» Sie wandte sich zum Gehen. «Auch nicht in meinem Vorgarten», fügte sie hinzu.
Aus Angst vor ihrer Vergeltung tat ich, wie mir geheißen, und beendete meine Karriere als Pantomime mit Gewinsel und nicht, wie ich gehofft hatte, mit einem lautlosen Paukenschlag.
Der Schauspieler hatte ein paar Monate später einen zweiten Gastauftritt in unserer Klasse, und als er den Mantel auszog, zeigte sich, dass er einen schwarzen Stretch-Anzug mitsamt kittfarbenem orthopädischen Stützkragen trug, die Folge eines Autounfalls. An diesem Nachmittag hatte er die Aufgabe, uns mit den Werken William Shakespeares bekannt zu machen, und wieder war ich völlig verzaubert von seinem Charme und Können. Wenn die Worte verwirrend wurden, brauchte man nur auf Gesicht und Hände des Schauspielers zu achten, um zu verstehen, dass die Rolle, die er verkörperte, nicht nur wütend war, sondern rachsüchtig. Ich liebte die Unterströmung von Feindseligkeit, die unter der Oberfläche dieser trügerisch schönen Sprache lag. Mir schien es eine Schande, dass die Menschen nicht mehr so sprachen und ich begann einen Feldzug zur Wiedereinführung des elisabethanischen Englisch bei den Bürgern Nordkarolinens.
«Wenn’s, edle Dame, wunder Euch auch nimmt, dass ich, so mag’s Euch dünken, ohne Not beklag’ den Zustand des Gemachs allhier», sagte ich zu meiner Mutter, als ich den Wohnzimmerteppich staubsaugte, was sie aus angeborener Faulheit mal wieder unterlassen hatte, «denn dieser Unrat, traun, befleckt nicht nur das gleichmüt’ge Gewebe, nein, auf den Charakter auch der Säum’gen wirft er Schatten. Zürnt mir nun Ihr, Weib? War’ ein Vergeh’n es, würdig, dass man’s strafe, die Kammern und Gelasse nicht zu reinigen, so würdet bald vom höchsten Ast Ihr baumeln als Sühn’ und Ahndung des, was unterließet Ihr zu tun, saumselige Gebiet’rin mein. Gibt es nicht Wämser, so man waschen, Leibwäsche, so man züchtig bügeln sollte? Seh’ ich dort Porzellan und ird’ne Krüge, begierig, dass man spüle ab, die stummen Zeugen des Gebrauchs? Mach’ an die Arbeit Sie sich, verdammenswerte Herrin, bevor die Frucht aus eig’nem Schoß zwo Fäuste gegen Euch erhebt, beseelt von Wut und von Empörung auch, zu würgen Euch am Halse, bis jäh der letzte Hauch aus dem Gehege Eurer Kehle weicht. Heb’ Dich hinweg nun, Dirne, frisch ans Werk!»
Meine Mutter reagierte, als hätte ich sie mit einem kleinen Stück Nähseide geschlagen. Die Absicht war da, aber die Waffe war fremdartig und unangemessen. Am Zustand meines Zimmers merkte ich, dass sie den gesamten folgenden Tag damit verbracht hatte, meine Schubladen nach Drogen zu durchsuchen. Die Klamotten, die ich mit einem gewissen Stolz ordentlich zusammengefaltet hatte, waren ohne Rücksicht auf Farbe und Kategorie zusammengeknüllt. Ich roch, dass geraucht worden war, und bemerkte die Kaffeeringe auf meinem Schreibtisch. Ich hatte meiner Mutter schon einiges verziehen, doch bringst die Schublad’ mein du durcheinander, hast einen Feind für’s Leben du herangezüchtet dir. Ich band eine Daune an meinen Kugelschreiber und mit diesem Federkiel schrieb ich ihr einen Brief. «Das Ding, so sonder Rast Ihr sucht», schrieb ich, «nicht findet sich’s in meiner sorglich aufgeräumten Kemenate, nein! doch ruht’s – nebst zweifelhaftem And’ren – in Eurem Hirngehäuse selbst.» Ich steckte ihn ihr in die Handtasche, nachdem ich ihn zweimal gefaltet und mit Wachs von den Kerzen, mit denen ich jetzt mein Zimmer beleuchtete, versiegelt hatte. Ich verfiel ins Grübeln, und das besserte sich erst, als ich Shakespeares Stücke in einem Band geschenkt bekam. Sobald ich sie besaß, fand ich sie schwerfällig und undurchschaubar. Ich las die Wörter und fühlte mich stumpf und dumm; sprach ich sie jedoch, bekam ich ein Gefühl von Macht. Am besten war es, das Buch einfach von Zimmer zu Zimmer mit mir herumzutragen und es gelegentlich nach lustigen Wörtern abzusuchen, mit denen ich meinen ohnehin duftenden Wortschatz würzte. Das gemeinsame Abendessen wurde entweder unerträglich oder qualvoll, je nach meiner Laune.
«Mich deucht, o edler Herr, liebwerte Dame Ihr, auch ihr Geschwister all’, dass dieses Flügeltier aus ländlichem Gefild’ des Wohlgeschmacks und Saftes nicht enträt, hat es geschmort doch in der eig’nen süßen Brüh’, die Zeitspann’ während, die es braucht, dass Phoibos’ Sonnenwagen rosig, fingrig auch, die pfaumenfarb’nen Himmel tat’ durchmessen, damit die Stund’ des Zwielichts rinn’ durch’s Glas. Hat er gleich Knusp, so ist er saftig doch, der plumpe Vogel, befriedigt im Verein so fein gesott’ner Nachbarn. Glaubt mir, o Blutsverwandte, verwahrt gut meine Worte, bedünkt mich doch das Unterfangen toll, ja, wagemutig gar, die Gabel mein zugleich mit Federvieh und Möhrchen zu besatteln, zu just derselben Zeit, sodass die Säfte zwillingsgleich sich mischen in delikater, trauter Harmonie, so Zung’ und Gaumen mein umschmeichelt und belebt im Geiste ohngezügelten Entzückens! Was sagt Ihr, edler Vater, Schwestern ihr, noch kaum des Wortes mächtiger kleiner Bruder du, lasst uns die Kelche heben und bis zur Neige leeren zu Ehren dieses herzhaft leck’ren Mahles, so liebend und mit höchster Anmut zubereitet von jenem pfichtbewussten Weibe, so wir als Gattin, Buhlin, Mutter gar benennen!»
Meine Begeisterung kannte keine Grenzen. Bald bettelte mich meine Mutter buchstäblich an, im Auto zu warten, wenn sie zur Bank oder zum Lebensmittelmann ging.
Ich war gerade beim Kieferorthopäden, den ich als wind’gen Bader zur Hölle wünschte, als der Schauspieler wieder in unserer Klasse gastierte.
«Du hast es verpasst», sagte meine Freundin Lois. «Der Mann war so unbeschreiblich stark, dass ich praktisch geweint habe, so brillant war er.» Sie streckte die Hände aus, als trüge sie ein Tablett. «Ich weiß nicht, was ich noch sagen soll. Die Wörter gibt es gar nicht. Ich könnte versuchen zu erklären, wie echt er wirkte, aber das würdest du nie verstehen. Nie», wiederholte sie. «Nie, nie, nie.»
Lois und ich waren seit sechs Monaten befreundet gewesen, als unsere Beziehung plötzlich einen Beigeschmack von Konkurrenzdenken bekam. Mir war es immer egal gewesen, wer bessere Noten oder mehr Taschengeld hatte. Wir hatten beide unsere Stärken; wichtig war nur, jeweils das zu würdigen, was der andere gerade am besten konnte. Lois hielt ihren Chablis besser als ich und dafür respektierte ich sie. Ihr beängstigendes Übermaß an Selbstvertrauen gestattete ihr, mit einer rostroten Afro-Perücke in die Schule zu marschieren und ich stand hundert Prozent hinter ihr. Sie hatte mehr Schallplatten als ich und weil sie neun Monate älter war, konnte sie Auto fahren, was sie auch tat, und zwar, als gelte es, ein Feuer zu löschen. Fein, dachte ich, wie schön für sie. Mein überlegenes Wissen und die mir innewohnende Großzügigkeit erlaubten mir, mich ehrlich für Lois zu freuen –, bis zu dem Tag, an dem sie meine Fähigkeit bezweifelte, den gastierenden Schauspieler zu verstehen. Als er die ersten Male da war, war sie genau wie alle anderen gewesen und hatte über seinen Schütteltrauma-Kragen gelacht und angesichts des mandarinengroßen Klumpens in seiner Strumpfhose die Augen gerollt. Ich hatte seine Brillanz zuerst erkannt, und jetzt sagte sie, ich verstünde ihn nicht? Mich deucht, sie spinnt.
«Fürwahr, o Frau», sagte ich zu meiner Mutter auf dem Weg zur Reinigung, «zu denken, dass dies niedere Gewürm zu mir von Größe spricht, als war’ mein Aug’ unfähig, sie zu schau’n, ist mehr, als zu ertragen ich vermag. Die Worte, so sie sprach, sie drangen mir ins Herz gleich einem Hieb, der Straf und Schmerzen beut und mich zugleich verdutzt und höchlich auch verdrießt. Doch gebet fein nun acht, denn mit der hintersten der Listen und Tücke auch werd’ dann zurück ich schlagen, wenn sie’s am mindesten gewahrt. Ein solcher Schimpf kann ungesühnt nicht bleiben, seid des getrost, o edle Dame mein. Die Rache mein wird süß mir munden wir die reifste Beere, und der Genuss wird lang und langsam sein.»
«Darüber kommst du auch noch hinweg», sagte meine Mutter. «In ein, zwei Wochen ist bestimmt alles wieder normal. Ich hole jetzt die Hemden deines Vaters aus der Reinigung, und ich möchte, dass du hier wartest, im Auto: Glaub mir, bald ist die ganze Sache ausgestanden und vergessen.»
Das war inzwischen ihre Antwort auf alles. Sie hatte sich ein wenig umgehört und war zu dem Schluss gekommen, ich sei, wie ihre Schwester das nannte, «vom Theatervirus befallen». Meine Mutter war überzeugt, dass dies eine Phase war, genau wie alle anderen. Ein paar Wochen Tamtam, und dann war wieder Schluss mit dem Showbusiness, wie vorher mit der Gitarre und meiner Privatdetektei. Ich hasste es, wie mein gesamter Lebensehrgeiz auf das Format einer gewöhnlichen Grippe reduziert wurde. Dies war kein Schnupfen, dies war ein ausgewachsenes Virus. Es würde zwar vielleicht ein, zwei Jahre lang nicht ausbrechen, aber der Krankheitskeim war in mir und würde nie mehr weggehen. Es hatte nichts mit Talent oder Initiative zu tun. Ablehnung konnte ihn nicht schwächen und kein noch so großer Erfolg konnte ihn je stillen. Die Diagnose war gestellt, die Prognose lautete: lebenslänglich.
Das Theatervirus schien am härtesten bei Juden, Homosexuellen und pummeligen Mädchen mit verklumpter Aknesalbe im Gesicht zuzuschlagen. Dies waren Individuen, welche, aus welchen Gründen auch immer, verzweifelt um Aufmerksamkeit bettelten. Später entdeckte ich, dass es ganz schlecht war, mehr als zwei von dieser Sorte – egal, wie lange – in einem geschlossenen Raum unterzubringen. Die Bühne war nicht nur ein physischer Ort, sondern auch ein Seelenzustand, und das Wort Publikum beschrieb jeden, der gezwungen war, die Gesellschaft des Befallenen zu ertragen. Wir jungen Schauspieler waren Glühbirnen an einer Schnur, die vierundzwanzig Stunden am Tag angeknipst blieben und sich und andere mit ihrer vorgeblichen Brillanz erschöpften.
Ich hatte das Theatervirus und Lois hatte ein Auto. Indem ich die Tiefe ihrer momentanen Verfehlung gegen den reichen Lohn abwägte, den ihr privates Gefährt bot, fand ich genügend Milde in meinem Busen, meiner eigensinnigen Freundin zu verzeihen. Ich rief sie sofort an, als ich erfuhr, dass unser gastierender Schauspieler eine Hamlet-Inszenierung im Amphitheater des Raleigh Rose Garden plante. Er sollte Regie führen und die Titelrolle spielen, aber die anderen Rollen konnte haben, wer wollte. Wir sprachen vor, und weil wir die jüngsten und Unerfahrensten waren, bekamen Lois und ich die Rollen der Wanderschauspieler, die Hamlet benutzt, um seinen Onkel Claudius zu ködern. Es war nicht die Rolle, die ich mir erhofft hatte, aber ich nahm das Angebot in stiller Würde an. Ich hatte ein paar anständige Sprechstellen und wollte, so gut ich konnte, daran arbeiten.
Das übrige Ensemble war älter als wir, zwanzig, dreißig Jahre alt, und hatte sich die Sporen in Freilicht-Dauerbrennern wie Die verlorene Kolonie und Sanft sollt ihr wie die Lämmer sein verdient. Sie waren Profs, und ich hoffte, aus ihrer Erfahrung Nutzen zu ziehen. So saß ich ihnen buchstäblich zu Füßen, während der Regisseur die Rampe entlang stürmte und seine geballte Faust «armer Yorick» nannte.
Ich betete diese Leute an. Lois schlief mit ihnen. In der zweiten Probenwoche hatte sie Fortinbras zu Gunsten von Laertes fallengelassen, der, wie sie angab, «echt gut mit dem Schwert konnte». Im Gegensatz zu mir wurde sie von den Älteren voll akzeptiert und ging mit Polonius und Ophelia auf nächtliche Besäufnisse und fuhr mit dem Regisseur an den See, während Gertrud und Rosenkranz es auf dem Rücksitz trieben. Das Schärfste daran war, dass Lois auch nicht entfernt so engagiert war wie ich. Ihr Theatervirus entsprach einer Vierundzwanzig-Stunden-Grippe, aber da spielte sie nun Tittenbillard mit Hamlet persönlich, während ich allein in meinem Zimmer saß, Text lernte und mir kleine Tricks ausdachte, allen anderen die Schau zu stehlen.
Es wurde beschlossen, dass Lois und ich als Wanderschauspieler Purzelbäume schlagend die Freilichtbühne betreten sollten. Als sie klagte, das Gras irritiere ihre Haut, untersuchte der Regisseur die winzigen roten Punkte auf ihrem Rücken und entschied, von jetzt an hätten die Gaukler hüpfend aufzutreten. Ich hatte Purzelbäume geübt, bis mein Hirn sich aus der Verankerung löste und man es innerhalb des Schädels schlackern hören konnte, und jetzt, auf Grund einer einzigen Beschwerde, sollten wir hüpfen? Er hatte bereits all meine Sprechstellen gekürzt und mir nur noch die eine Zeile «ja, gnädiger Herr!», übriggelassen. Das war’s, vier lausige Silben. Aus einem Niesen ließ sich emotional mehr machen als aus meinem gesamten Text zusammengenommen. Während die anderen Schauspieler durch den Rose Garden schlenderten und ihre rachsüchtigen Monologe memorierten, hüpfte ich auf dem Parkplatz herum und wiederholte mit einer Stimme, die sich immer mehr nach einem dressierten Papagei anhörte: «Ja, gnäd’ger Herr!» Lois kam sich hüpfend albern vor und sprach mit dem Regisseur, der ihren Instinkt lobte und ansagte, von jetzt an hätten die Gaukler normal gehend aufzutreten.
Je weniger ich zu tun hatte, desto mehr verwendeten mich meine Schauspielerkollegen als persönlichen Sklaven. Ich hätte sie liebend gern abgehört, aber stattdessen wollten sie, dass ich ihre Kronen polierte oder zu einem Auto trabte, um einen verlorenen Dolch auf dem Rücksitz zu finden.
«Willst du dich nützlich machen? Du kannst Doogan helfen und mit Leuchtklebeband die Anordnung der Requisiten markieren», sagte der Regisseur. «Du kannst die Spinnen aus der Garderobe jagen, oder, noch besser, du kannst zum Laden rennen und uns ein paar Getränke holen.»
Lois saß meistens im Schatten und tat gar nichts. Sie weigerte sich nicht nur, hier und da zu helfen, sie war stattdessen immer die erste, die mir einen großen Schein gab, wenn sie kalorienarm Brause zu dreißig Cent bestellte. Sie durchstöberte ihr Portemonnaie und überging die Ein-Dollar-Noten, bis sie einen Zehner oder Zwanziger gefunden hatte. «Der muss sowieso kleingemacht werden», sagte sie dann. «Wenn sie dir einen Becher Eiswürfel gesondert berechnen wollen, sag ihnen, sie sollen dich am Arsch lecken.» In den Probenpausen fläzte sie sich auf die Tribüne und quatschte mit den anderen Schauspielern, während ich für die Bühnenarbeiter Leitern verankerte.
Als es Zeit für unsere große Szene wurde, rezitierte Lois ihren Text, als läse sie ihn von einer weit entfernten Plakatwand ab. Sie kniff die Augen zusammen und pausierte zwischen den einzelnen Silben, sodass jedes Wort mit einem Fragezeichen versehen wurde: «Wiege? Dich? Der? Schlummer? Und? Nimmer? Komme? Zwischen? Uns? Ein? Kummer?»
Falls der Regisseur ein Problem mit ihrer Darstellung hatte, so behielt er das für sich. Mir dagegen wurde aufgetragen, nicht mit dem Pullover über der Schulter herumzulaufen, langsamer zu gehen und ohne Akzent zu sprechen. Die Kritik wäre leichter zu ertragen gewesen, wenn er sie etwas gleichmäßiger verteilt hätte, aber damit war wohl nicht zu rechnen. Sie konnte mit Sonnenbrille und Pizza essend auftreten, und das war «prima, Lois. Einsame Klasse, Kleines.»
Inzwischen konnte ich sehen, wie ich auf eigene Faust von den Proben nach Hause kam. Lois konnte mich nicht mehr fahren, weil sie immer eilig auf eine Party oder in ein Restaurant musste, und zwar mit, wie sie sie nannte, «der Bande von Helsingör».
«Ich kann nicht mit», sagte ich und tat, als wäre ich ebenfalls eingeladen. «Ich muss dringend nach Hause und meinen Text büffeln. Viel Spaß. Ich ruf meine Mutter an, sie soll mich abholen.»
«Sind wir verstimmt?», fragte dann meine Mutter, während sie mit dem Kombi auf dem Parkplatz vorfuhr.
«Wir sind es in der Tat», antwortete ich dann, «und zwar zutiefst.»
«Lass nur», sagte sie. «In zehn Jahren erinnerst du dich unter Garantie an keinen dieser Leute mehr. Die Zeit vergeht; du wirst schon sehen.» Sie runzelte die Stirn und studierte ihr Gesicht im Rückspiegel. «Genug Schnaps und man kann alles vergessen. Nimm’s dir nicht so sehr zu Herzen. Wenn du sonst nichts draus gelernt hast, dann doch immerhin, sie um das Wechselgeld zu bescheißen, wenn du ihnen Getränke holst.»
Ihre lässige Einstellung gefiel mir nicht, aber die Sache mit dem Wechselgeld hatte was.
«Runde alles nach oben ab», sagte sie. «Gib ihnen das Wechselgeld zusammen mit dem Getränk; dann ist es weniger wahrscheinlich, dass sie nachzählen –, und falte nie die Scheine zusammen; Geld trägt man immer im Bündel.»
Die Sache mit der Rache beherrschte meine Mutter. Nur von Schauspielerei, dachte ich, verstand sie nichts.
Wir hatten bereits Kostümprobe, als der Regisseur an Lois mit einem neuen Projekt herantrat, welches er im kommenden Herbst zu inszenieren hoffte. Es sollte ein Musical werden, das auf dem Leben ungebunden herumziehender Zigeuner basierte. «Und du», sagte er, «sollst meine kecke Banditenkönigin sein.»
Lois konnte nicht singen; das wusste jeder. Sie konnte auch nicht schauspielern oder das Tamburin bedienen. «Du hast das Herz einer Zigeunerin», sagte er und kniete vor ihr im Gras. «Die stets erregte Seele der Nomadin.»
Als ich mein Interesse zu verstehen gab, meinte er, die Arbeit hinter den Kulissen könnte mir vielleicht Spaß machen. Er fand, ich sollte Scheinwerfer aufhängen oder Soffitten schleppen, einer dieser Typen mit den tiefhängenden Hosen werden, deren Werkzeuggürtel schwer an Schraubenschlüsseln und dicken Rollen Inspizienten-Klebeband zu tragen hatten. Jeder, der annahm, man könne mir elektrische Kabel anvertrauen, musste ein kompletter Idiot sein, und genau das war dieser Mann. Da sah ich ihn plötzlich, wie er war, und bemerkte, wie unvorteilhaft die Strumpfhose seine schlaffen Waden und sein schwabbeliges kleines Gemächt betonte. Stets erregte Seele der Nomadin, aber hallo. Wenn er so was von beschissen bedeutend war, was machte er dann in Raleigh? Seine Fönfrisur, die billigen halbhohen Hacken und regenbogenfarben gestreiften Hosenträger …: alles Schwindel. Warum trägt man einen Hosenträger zur Strumpfhose, wenn alles, was eine Strumpfhose kann, ist, dass sie ohne fremde Hilfe oben bleibt? Deshalb heißt sie ja Strumpfhose, oder? Und als Schauspieler? Der Mann spielte, als wäre das Publikum schwerhörig. Er rief seinen Text, grinste wie ein ausgehöhlter Kürbis und wedelte mit den Armen, als stünden seine Ärmel in Flammen. Seiner Art von Mimentum war es ja schon immer gelungen, mich peinlich zu berühren. Ihn zu sehen war, als öffne man einem singenden Telegrammboten die Tür: Man weiß, es soll unterhaltend sein, aber man kommt nicht über die traurige Tatsache hinweg, dass dieser Mensch doch wirklich glaubt, er bringe einem etwas Freude ins Leben. Irgendwo dort draußen hatte er eine Mutter, die einen Schuhkarton mit hektographierten Programmzetteln sortierte, sich einen Schnaps nach dem anderen einschenkte und sich fragte, wann ihr Sohn wohl zur Vernunft kommen und etwas Abflussfrei schlucken würde.
Endlich sah ich Hamlet als das, was er wirklich war, und erkannte in mir den dumpfen Yorick, der ihm immer blind gefolgt war.
Meine Mutter ging in die Premiere. Nachdem ich mein bleiernes «Ja, gnäd’ger Herr» aufgesagt hatte, legte ich mich auf die grasbewachsene Bühne, und Lois träufelte mir aus einer Phiole falsches Gift ins Ohr. Als ich im Sterben lag, öffnete ich nur einen Schlitz breit die Augen und sah meine Mutter, auf ihrem harten Steinstuhl ausgestreckt und die Motten abwehrend, welche, zusammen mit ein paar Dutzend älterer Mitbürger, vom Licht angelockt worden waren.
Danach gab es eine Premierenfeier, aber ich ging nicht hin. Ich zog mich in der Garderobe um, wo die Schauspieler standen und einander gratulierten, wobei sie immer wieder die Wörter «Leuchtkraft» und «Intensität» gebrauchten, als beschrieben sie die Rampenlichter. Horatio fragte mich, ob ich für ihn Zigaretten holen gehe, ich steckte sein Geld ein und versprach, «geschwinde wie der Blitz, o Herr» zurück zu sein.
«Du warst der Beste in der ganzen Aufführung», sagte meine Mutter und hielt auf dem Nachhauseweg kurz an, um eine Tief-kühl-Pizza zu kaufen. «Wirklich wahr. Du bist auf die Bühne gekommen und alle haben nur noch dich gesehen.»
Da ging mir auf, dass meine Mutter ein besserer Schauspieler war, als ich je zu werden hoffen konnte. Die Schauspielerei ist etwas anderes als Posieren oder So-tun-als-ob. Wenn sie mit Präzision betrieben wird, hat sie eine frappierende Ähnlichkeit mit Lügen. Der Kostüme und großen Gesten beraubt, präsentiert sie sich als eine unbestreitbare Wahrheit. Ich beneidete meine Mutter nicht um ihr Können, aber ich widersprach ihr auch nicht. So überzeugend war sie. Als ich so neben ihr saß, mit einer Pizza, die auf meinem Schoß allmählich auftaute, schien es mir das beste, mich einfach zurückzulehnen und zu lernen.